Das kleine Mädchen und die klingende Kugel

Die Geschichte mit den Ohren lesen (ca. 8 min.)
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Das kleine Mädchen stützte den Kopf in die Hände und blickte traurig in den Himmel. Es hatte seine Kugel verloren, die sein liebstes Spielzeug gewesen war.
Die Kugel passte genau in seine Hand und schimmerte in allen Farben, die man sich nur vorstellen konnte. Und wenn das kleine Mädchen die Kugel sanft hin- und herbewegte, erklang aus ihrem Inneren ein samtiges Läuten, ähnlich der großen Glocken im Dorf, nur verträumter und geheimnisvoller.
Hielt das Mädchen die Kugel gegen das Licht, schien sie einige Sonnenstrahlen einzufangen und sie funkelte und blitzte. Und diese Traumkugel hatte das kleine Mädchen verloren.

Sie war seit einigen Tagen immer mal wieder rätselhaft verschwunden, doch das Mädchen hatte sie immer wieder gefunden. Unter einem großen Ahornblatt oder am Ufer des Sees, halb im Sand vergraben. „Ich muss sie wohl liegen gelassen haben“ dachte das kleine Mädchen bei sich und steckte die Kugel jedes Mal, wenn es sie wiederfand mit größerer Beachtung in seine Rocktasche.

Es gewöhnte sich an, immer eine Hand in die Tasche zu stecken und zu fühlen, ob die Kugel noch da war, denn manchmal fühlte sich der Rock ganz leicht an, so als sei die Kugel wie von Zauberhand verschwunden. Doch immer, wenn seine Hand nach der Kugel tastete, war sie noch da. Warm und kühl zugleich.
Und wenn das Mädchen die Kugel ans Licht holte, um mit ihr zu spielen, achtete es sehr darauf, sie auch wieder in die Tasche zu stecken. Doch manchmal schien es das zu vergessen, sonst würde es die Kugel nicht plötzlich im Sand wiederfinden, dachte es sich.

Doch gestern war die Kugel verschwunden.
Wirklich verschwunden, denn das kleine Mädchen hatte sie auch nach stundenlangem Suchen nicht wiedergefunden. Es war überall gewesen, wo es gewesen war: Am großen Baum, auf dem Dorfplatz, hinter dem Haus ihrer Großeltern, auf dem Feld und auf der Weide. Doch nirgends war auch nur ein Funken der Kugel zu sehen. Kein Schimmer im Sand, kein Funkeln in der Sonne.
Das Mädchen konnte es nicht glauben und lag die ganze Nacht wach.
Es überlegte, wo es alles noch nicht gesucht hatte. Am nächsten Tag aber musste es ihren Brüdern auf der Weide helfen und hatte keine Zeit, weitere Streifzüge zu unternehmen.

Während es in der Sonne arbeitete hörte es plötzlich ein warmes Läuten von weit her.
Zuerst dachte das kleine Mädchen, es wären die Dorfglocken, doch das konnte nicht sein. Es war noch nicht an der Zeit. Und außerdem klang dieses Läuten ganz anders. Weit weg, aber doch nah, so als wäre es in seinem Kopf. Doch dann hörte das leise Klingen auf, und das kleine Mädchen dachte, es müsse wohl geträumt haben.

Am Abend des zweiten Tages nach dem Verschwinden der Kugel, lag sie plötzlich auf seinem Kopfkissen. Das kleine Mädchen konnte es nicht glauben und blinzelte. Doch die Kugel war tatsächlich da. Es hielt sie in den Händen und konnte sie gar nicht oft genug hin- und herschwingen und die warme Kühle in ihrer Hand spüren. Wie sie auf sein Kopfkissen kam, konnte es sich nicht erklären, doch das kleine Mädchen war überglücklich und schlief, die Kugel an sein Herz gepresst, mit einem Lächeln ein.
Am Morgen war die Kugel verschwunden.

In der darauffolgenden Nacht erklang sanfte Läuten wieder und das kleine Mädchen wachte davon auf.
Es lief in die Richtung, aus der die Musik zu kommen schien.
Das Mädchen blieb vor dem großen Baum stehen und legte sich auf die Erde. Keine Frage, das Läuten kam von dort. Mit seinen kleinen Händen begann es zu graben. Und es grub und grub. Als seine Finger langsam von dem kratzenden Sand wund wurden, sieß es auf etwas Hartes. Das Herz des Mädchens machte einen Sprung. Doch es war nur ein Stein. Ein runder, grauer Stein.

Enttäuscht schlich das kleine Mädchen zurück in sein Bett und schlief mit dem schwarzen Sand unter den Fingernägeln ein.

Auch in der nächsten Nacht wachte das kleine Mädchen davon auf, dass es das singende Öäuten ihrer verlorenen Kugel hörte. Schnell schlug es die warme Decke beiseite und lief mit nackten Füßen dorthin, wohin es seine Ohren führten. Auch diesmal schien das Läuten aus dem Boden zu kommen. Das kleine Mädchen kniete sich nieder, ohne auf sein weißes Nachthemd zu achten und fing an, seine Kugel in der Erde zu suchen .Und wieder stieß es nach zwei Stunden nur auf einen grauen Stein. Das Mädchen lief mit hängenden Schultern wieder nach Hause und schlief mit einer Träne im Auge ein. Das Nachthemd hatte schwarze Flecken bekommen.

Auch in der nächsten und übernächsten Nacht wurde das Mädchen von dem Ruf seiner verlorenen Kugel gerufen und jedes Mal grub es nach ihr bis seine Finger wund wurden. Und jedes Mal fand es anstelle der Kugel nur einen hässlichen grauen Stein. In der fünften Nacht, als das Mädchen wieder nur Erde mit ins Bett brachte, fing das Herz des kleinen Mädchens plötzlich an, zu weinen und konnte gar nicht mehr aufhören.
Die Tage vergingen. Nur manchmal hörte das Mädchen noch ein schwaches Läuten von irgendwoher, immer kurz bevor es zu träumen anfing. Doch es rannte nie wieder nach draußen, um sie zu suchen. Und die klingende Kugel blieb für immer verschwunden.

5 Gedanken zu “Das kleine Mädchen und die klingende Kugel

  1. Liebe Ani,
    hab die Story eben gelesen (aber selbst, denn naja, du weißt ja, wie da meine Vorlieben gewichtet sind). Mir fällt gerade nix kluges ein, was ich dazu kommenteiren könnte, aber ich wollte dich wissen lassen, dass ich die Story nu gelesen hab und es sehr schön fand, wie du mit ihr Bilder in meinem Kopf auslöst. Ich will auch sone Kugel!

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